Produktion

Deindustrialisierung durch teures Gas

Die deutsche Industrieproduktion schwächelt, im G7-Vergleich ist unser BIP 2023 als einziges rückläufig. Ist der „kranke Mann Europas“ zurück?

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von Claas Syrt Moeller 08.01.2024
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Die deutsche Industrieproduktion ist 2023 über mehrere Monate in Folge gesunken. Hauptgrund: der hohe Preis für Energie. Die Verlagerung der Produktion aus Deutschland in Länder mit billiger Energie ist bereits im Gange. Das bewog die Zeitschrift „Economist“ zu der Frage, ob Deutschland wie vor der Jahrtausendwende wieder der „kranke Mann Europas“ sei. Clemens Fuest, Präsident des Ifo Instituts, hat für den Oktober-Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums untersucht, ob unserem Land eine dauerhafte Deindustrialisierung droht. Bis zum Ende der deutschen Gasversorgung aus Russland rangierten die deutschen Erdgaspreise zwischen dem Niveau in den USA und dem höheren in Asien, wo schon bislang stärker auf Flüssiggas genutzt wurde. Selbst bei einem raschen Ende des Ukraine-Kriegs hält Fuest es für unwahrscheinlich, dass die Gasimporte aus Russland wieder aufgenommen werden. Erdgas bleibt knapp und teuer, zeigt sich Fuest überzeugt, selbst wenn weiter zügig Flüssiggasterminals entstehen. Der Erdgaspreis mache Europa im Vergleich zu den USA und Asien weniger konkurrenzfähig.

Brückentechnologie Erdgas

Erdgas sollte nach Deutschlands Ausstieg aus Kernenergie und Kohleverstromung die Dekarbonisierung unterstützen. Neue Gaskraftwerke sollten die schwankende Energieversorgung aus Sonne und Wind ergänzen. Dass Gas nun knapp und teuer ist, stellt daher ein Problem dar.Zur Energieknappheit treten die geopolitischen Risiken angesichts wachsender Spannungen zwischen den USA und China – Stichwort Taiwan. Clemens Fuest hält diesen Spannungsherd für dauerhaft und nicht ungefährlich, gerade wegen der Verflechtung der deutschen und chinesischen Industrie. Das gelte auch für die Gesamtlage der deutschen Wirtschaft. Schon länger sinke die deutsche Industrieproduktion, auch im Vergleich zur Industrieproduktion im Euroraum insgesamt. Als Herausforderungen kämen der demografiebedingte Arbeitskräftemangel und die stockende Digitalisierung hinzu.

Industrialisierung = Wohlstand?

In hoch entwickelten Volkswirtschaften sinkt seit Jahren der Anteil der Industrieproduktion zugunsten der Dienstleistungen – außer in Deutschland. Fuest stellt sich allerdings der hierzulande vorherrschenden Auffassung entgegen, hoher Wohlstand erfordere einen hohen Industrieanteil. Er weist nach, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad und Wachstum gibt, sondern eher unterschiedliche Wachstumsmodelle. Sie reflektierten die Unterschiede in den komparativen Vorteilen der verschiedenen Länder. Fuest identifiziert aber im Vergleich international bedeutender Wirtschaftsländer einige Besonderheiten für Deutschland, nämlich Vorteile im Bereich der Industrie und in der Organisation hocheffizienter internationaler Wertschöpfungsketten. Darum könnte man Deindustrialisierung in Deutschland keinesfalls schulterzuckend hinnehmen. „Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Schrumpfung der Industrie durch wachsende Wertschöpfung in anderen Sektoren ausgeglichen werden kann.“

Gegen Subventionen

Kann die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Deindustrialisierung entgegenwirken? Ein subventionierter Industriestrompreis könnte den Anstieg der Energiekosten abfedern. Seine Befürworter argumentieren, der Ausbau der erneuerbaren Energien werde die Strompreise in Deutschland sinken lassen und Subventionen auf lange Sicht überflüssig machen. Clemens Fuest rechnet demgegenüber mit langfristig hohen Energiepreisen – nicht
nur, weil in anderen Ländern die Sonne länger scheint und der Wind stärker weht. Entscheidend sei Deutschlands sehr spezielle und enge Politik, die das Energieangebot verknappt. Neben das Aus für Atom- und Kohlestrom tritt hier der Verzicht auf die Förderung von Schiefergas. Der Ifo-Chef gibt sich hier als klassischer Ordnungspolitiker und lehnt Subventionen ab. „Ein staatlich garantierter Strompreis könnte je nach Gestaltung die Anreize, möglichst günstig Strom einzukaufen und dafür entsprechende Anpassungen vorzunehmen, beeinträchtigen oder sogar ganz beseitigen. Das wäre kontraproduktiv.“ Es sei unvermeidbar, dass sehr energieintensive Produktion aus Deutschland abwandert oder ausgelagert wird. Diesen Wertschöpfungsverlust müsse man durch andere Aktivitäten ausgleichen.

Hidden Champions

Große Hoffnungen setzt Fuest in die zahlreichen „Hidden Champions“ in Deutschland. Die Bedingungen für diese hoch spezialisierten Mittelständler, vielfach Nischen-Weltmarktführer, müssten verbessert werden und das Potenzial für Unternehmensgründungen besser genutzt werden. Notwendig außerdem: mehr Arbeitskräfte auf dem Markt – durch veränderte Anrechnungsregeln beim Bürgergeld, eine Reform der Familienbesteuerung, bessere Kinderbetreuung und eine längere Lebensarbeitszeit. Bei Schulen, Berufs- und Weiterbildung sieht Fuest Reformbedarf. Wichtige Punkte außerdem: Bürokratieabbau, bessere Infrastrukturen für Verkehr und Datenübertragung sowie mehr Offenheit für digitale Geschäftsmodelle. Auf Energiegebiet ist er dafür, „mit Marktsignalen, also an aktuellen Knappheiten orientierten Preisen, und dem Ausbau der Infrastruktur eine effizientere Nutzung des vorhandenen Energieangebots zu erreichen.“ Zudem sei Deutschland mit einer tieferen Integration des europäischen Energiemarkts gedient.

Probleme lösbar

Eine Deindustrialisierung könnte durchaus eintreten, resümiert Clemens Fuest. Allerdings könne die Wirtschafts und Finanzpolitik Bedingungen schaffen, um die Herausforderungen zu meistern. Ganz ähnlich sieht es übrigens auch Holger Schmieding: der Ökonom, der Deutschland erstmals das Etikett vom kranken Mann Europas anheftete, es heute aber für abwegig hält. Für Schmieding, inzwischen im Dienst der Berenberg Bank, ist Deutschland wettbewerbsfähig. Sein Mittelstand sei „eine der besten Suchmaschinen für Innovationen, die je erfunden wurde“. Ähnlich die Beschäftigungssituation: Ende der 1990er Jahre war die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch und Hauptsymptom der „deutschen Krankheit“. Deutschland habe heute die mit Abstand höchste Beschäftigungsquote in Europa und dennoch fehlten 1,5 Millionen Arbeitskräfte. Auch die Haushaltslage sei nach langem Sparen die komfortabelste aller großen entwickelten Volkswirtschaften. Und schließlich, so Schmieding, waren die 1990er-Jahre in der deutschen Politik von Reformunwillen und Blockade der Parteien geprägt. Heute arbeite die Regierung an wichtigen Themen wie einer besseren Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und schnelleren Genehmigungsverfahren. Der derzeitige Abschwung könne als Weckruf dienen und weitere Reformen auslösen.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts (© Ifo Institut - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.)

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