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Kolumne Parallelwelten: Vom Jungen, der „Wolf“ rief

Schüren Medien und Politik permanent Ängste, stumpft die Bevölkerung ab und verliert das Vertrauen, ist Simone Harland überzeugt.

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von Simone Harland 22.09.2025
(© ­­­ deagreez − stock.adobe.com)

Es gibt eine Fabel, die dem antiken griechischen Dichter Äsop zugeschrieben wird. Sie handelt von einem Hirtenjungen, der sich langweilte. Das Schafehüten war anscheinend nicht spannend genug und das Smartphone noch nicht erfunden. Jedenfalls kam der Junge eines Tages auf die glorreiche Idee, einfach mal so „Wolf“ zu schreien. Um zu sehen, was passiert. Die Bewohner des Dorfs in der Nähe kamen angerannt, um dem Jungen zu helfen. Doch da war kein Wolf. Nicht einmal ein Hund, den der Junge mit einem Wolf hätte verwechseln können. Der Junge wusste nun, dass er die Dorfbewohner manipulieren konnte, und rief noch mehrere Male „Wolf“, ohne dass sich ein Wolf blicken ließ. Als dann tatsächlich ein Wolf auftauchte, kamen die Dorfbewohner dem Hirten nicht länger zu Hilfe. Sie glaubten ihm nicht mehr. Das Ende vom Lied: Die Schafherde und – je nach Version der Fabel – auch der Junge waren nach dem Wolfsangriff Geschichte.

Ähnlich wie in dieser Fabel überbieten sich die unterschiedlichsten Medien, aber auch Politiker mit Horrornachrichten. Mal droht ein Höllensommer, dann wiederum könnte die nächste Pandemie vor der Tür stehen. Oft genug wird auch die Furcht vor einem Krieg oder vor politisch Andersdenkenden geschürt. Alarmismus heißt das Stichwort. Wer lauter schreit, wer eine noch reißerische Wortwahl verwendet als andere, hat vermeintlich bei Lesern, Zuhörern, Zuschauern oder gar Wählern die Nase vorn.

Doch umso häufiger sich Medien und die Politik in Katastrophennachrichten ergehen, je stärker stumpfen die Menschen ab, wenn das Gesagte nicht (sofort) eintritt. Sie verlieren entweder das Vertrauen oder sagen sich: „Das wird immer schon berichtet. Bislang sind die Katastrophen noch nicht eingetroffen. Wird schon nicht so schlimm sein.“ Oder aber sie fühlen sich in ihren Freiheiten eingeschränkt, weil die Politik als Folge des Alarms mal mehr, mal weniger vernünftige Maßnahmen ergreift, und machen genau das Gegenteil von dem, was sinnvoll wäre.

Dieser Alarmismus und das dauerhafte Schüren von Ängsten ist also keine gute Sache. Denn, wie in der Fabel vom Jungen, der Wolf rief, tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Vor allem lassen sich Begriffe irgendwann nicht mehr steigern. Ein Beispiel ist der Klimawandel, der mittlerweile oft als Klimakatastrophe oder gar Klimakollaps bezeichnet wird. Was soll danach noch kommen?

Natürlich spielen manche Medien, aber auch Politiker auch gezielt mit der Angst – etwa, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch Angst zu schüren, ist nicht nur aus den bereits genannten Gründen keine gute Idee. Denn Angst kann Menschen lähmen, sodass sie wichtige Entscheidungen nicht mehr oder zu spät treffen. Außerdem birgt die ständige Konfrontation mit angstauslösenden Inhalten ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen, zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen. Sich machtlos gegen Umwälzungen zu fühlen, die sich nicht durch eigene Entscheidungen messbar beeinflussen lassen, lässt vieles andere bedeutungslos erscheinen oder kann in Panik münden.

Ein weiterer, wie ich finde, für eine Gesellschaft kritischer Punkt: Menschen, die Angst haben, lassen sich leichter in bestimmte Richtungen lenken. Politisch gesehen kann Angst deshalb sogar gewollt sein. Allerdings kann Angst auch Spaltungen innerhalb der Gesellschaft begünstigen. Bestes Beispiel: die Corona-Jahre.

Ich würde mir daher wünschen, dass die Politik zwar nichts beschönigt, doch etwas mehr Augenmaß walten lässt. Ich würde mir wünschen, dass die Medien zu einer insgesamt seriöseren Berichterstattung zurückkommen, statt immer häufiger reißerische Nachrichten zu verbreiten. Außerdem wünsche ich mir, dass – außer in Meinungsartikeln wie diesem – Nachricht und Meinung voneinander getrennt werden. Denn in vielen journalistischen Textsorten wie Berichten, Reportagen und Hintergrundartikeln, die eigentlich neutral sein sollen, scheint derzeit die Haltung der Berichterstatter durch. Das ist schlechter Journalismus und bringt eine ganze Branche in Misskredit. Menschen wollen sich selbst eine Meinung bilden. Sie brauchen niemanden der Wolf schreit, um selbst Schlüsse zu ziehen. Wer zu häufig Wolf schreit, dem glaubt irgendwann niemand mehr.

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