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Brexit: Was bedeutet der Brexit für NRW?

In der Wirtschaft herrscht derzeit Verunsicherung. Noch scheint völlig offen, worauf sich Brüssel und London letztlich einigen werden.

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von Regiomanager 01.04.2018
Ein großes Fragezeichen – das verbinden viele Unternehmer derzeit mit dem Thema Brexit Foto: © fotogestoeber – stock.adobe.com

Die Folgen des Brexits vorherzusagen, ist für Stefan Enders in weiten Teilen noch „Kaffeesatzleserei“. Zu unklar sei die momentane Situation in den Verhandlungen zwischen Brüssel und London, sagt der Leiter des Bereichs International bei der IHK Mittlerer Niederrhein, zu deren Kammerbezirk die Städte Mönchengladbach und Krefeld sowie die Kreise Viersen und Neuss zählen. Ohne Zweifel steht für den Experten allerdings fest, „dass NRW sehr stark betroffen sein wird“. So gebe es beispielsweise in den Branchen Maschinenbau, Pharma und Automobilindustrie eine starke Verquickung der Lieferketten über den Ärmelkanal hinweg. „Diese Lieferketten dürften zu einem erheblichen Maß gestört und wohl auch teilweise zerstört werden.“ Die wirtschaftliche Bedeutung der bisherigen Zusammenarbeit wird auch von den Zahlen untermauert, auf die die Landesregierung bei diesem Thema hinweist: „Mit einem Handelsvolumen von 22,3 Milliarden Euro (in 2016) ist das Vereinigte Königreich der viertwichtigste Handelspartner des Landes“, heißt es aus Düsseldorf. 1.500 britische Unternehmen hätten ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen, darunter BP, Dyson und Vodafone. Rund zehn Milliarden Euro Direktinvestitionen, die Zahl ist aus dem Jahr 2015, hat es in NRW von britischer Seite gegeben. Umgekehrt investierten NRW-Firmen im selben Zeitraum 32 Milliarden Euro im Vereinigten Königreich.

Ruhe vor dem Sturm?

Beim Handel sei der Brexit-Schock zwar bislang ausgeblieben, führt Stefan Enders aus. 2016, im Jahr des Votums für den EU-Austritt, seien die Inseln der drittgrößte Exportmarkt für die Unternehmen an Rhein und Ruhr gewesen. Beim Import stand Großbritannien in NRW an sechster Stelle. „Und an beiden Listenplätzen hat sich auch im Jahr 2017 nichts geändert“, sagt der Mitarbeiter der IHK Mittlerer Niederrhein. Das sei schon erstaunlich. „Eigentlich wären doch Einbrüche bei diesen Zahlen zu erwarten gewesen. Allerdings zeige dies auch, dass sich langjährige wirtschaftliche Verflechtungen nicht einfach auflösen lassen.“ Optimisten könnten nun sagen, das sei doch ein gutes Omen dafür, dass auch nach dem tatsächlichen Ausscheiden Großbritanniens alles gar nicht so schlimm werde. Pessimisten könnten dagegenhalten: „Das ist die berüchtigte Ruhe vor dem Orkan.“

Alles scheint in der Schwebe, so sehen es offenbar auch die hiesigen Firmen. „Wenn wir in unsere Mitgliedsunternehmen hineinhorchen, sind die Aussagen mit Blick auf den Brexit noch recht vage“, berichtet Stefan Enders. „Wer UK-Geschäft betreibt, hat natürlich bereits Überlegungen zur Zukunft angestellt. Konkrete und ausgefeilte Strategien lassen sich aber, zumindest bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen, kaum feststellen.“ Diese Beobachtung entspreche auch der Auswertung einer bundesweiten Umfrage der IHK-Organisation auf der Basis der Angaben von rund 900 Unternehmen. Danach haben sich knapp 80 Prozent der Firmen mit den Folgen des Brexits für ihr Geschäft auseinandergesetzt, doch nur jedes siebte Unternehmen fühle sich gut vorbereitet. Enders verwundert das nicht. „Es steht ja noch nicht einmal fest, welches grundsätzliche Szenario wir bekommen: Als politisch realistisch gilt derzeit ein Freihandelsabkommen, was jedoch mehrjährige Verhandlungen bedeuten würde. Es kann aber auch zum ‚harten Brexit‘ kommen und danach geht es nach den Regeln der WTO weiter.“ So oder so werde es deutlich komplizierter als es derzeit ist. „Für den Mittelstand bedeutet diese Thematik im Großen und Ganzen eine enorme Herausforderung.“ Zu bedenken sei auch, dass deutsche Unternehmen ohne Kontakte nach Großbritannien „über Bande“ betroffen sein könnten. „Denn auch die Niederlande oder Frankreich werden den Brexit spüren.“ Heißt: Unter anderem könnte die Nachfrage nach deutschen Produkten und Dienstleistungen aus diesen Ländern zurückgehen.

Ein Mehr an Bürokratie befürchtet Wulf-Christian Ehrich, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK zu Dortmund, die auch Unternehmen aus Hamm sowie aus dem Kreis Unna vertritt. „Wir müssen deutschlandweit von mehr als 14,6 Millionen neuen Zoll-Anmeldungen nach dem Brexit ausgehen“, sagt er. Hinzu kämen die Ursprungsnachweise. Beides sei mit erheblichen Kosten und Aufwand verbunden. Auch die Wirtschaft im Ruhrgebiet ist seiner Aussage nach extrem verunsichert. Stets laufe es auf dieselbe und bislang nicht explizit beantwortete Frage hinaus, welches Modell künftig zwischen Brüssel und London zum Einsatz kommt. Die Bandbreite reicht von den Varianten Norwegen und Schweiz bis zur schlichten Handelsbeziehung im Rahmen der WTO – im letzten Fall wäre die wirtschaftliche Partnerschaft die gleiche wie etwa zwischen der EU und Simbabwe. „Unsere Unternehmen brauchen Planungssicherheit“, lautet daher Ehrichs Forderung an die Politik.

Einige positive Aspekte

Bei der Landesregierung, die mit Friedrich Merz nun einen eigenen Beauftragten für die Folgen des Brexits hat, versucht man, dem EU-Austritt des wichtigen Partners zumindest einige positive Aspekte abzugewinnen. So hat Schwarz-Gelb kürzlich einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der es ermöglichen soll, dass künftig große Wirtschaftsprozesse komplett bis hin zur Urteilsabfassung in englischer Sprache gehalten werden. Hintergrund ist, „dass gerade in Anbetracht des Brexits Rechtsexperten davon ausgehen, dass der Gerichtsstandort London deutlich an Attraktivität einbüßen wird“, so Düsseldorf. Um diese „lukrativen Rechtsstreitigkeiten“ bemühten sich bereits jetzt andere Staaten, wie zum Beispiel die Niederlande, Belgien oder Frankreich. „Die nordrhein-westfälische Justiz braucht diesen Wettbewerb nicht zu scheuen“, hatte NRW-Justizminister Peter Biesenbach Anfang März verkündet. „Denn die Qualität und Geschwindigkeit unserer Gerichte ist gerade im europäischen Vergleich richtig gut.“ Das einzige Hindernis bestehe für internationale Wirtschaftskonzerne in der Sprache. Durch die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen wolle man nicht nur die hiesigen Gerichte, sondern den gesamten Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen attraktiver machen.

Stefan Enders von der IHK Mittlerer Niederrhein kennt ein weiteres Positiv-Beispiel: „Innerhalb der japanischen Wirtschafts-Community in London gibt es Überlegungen, das Land zu verlassen und sich stattdessen im Raum Düsseldorf anzusiedeln, wo bekanntlich ebenfalls viele Japaner leben und arbeiten.“ Das könne „gute Impulse“ bringen. „Gleichwohl sollte man solche Aspekte auch nicht überbewerten.“ Für seinen Dortmunder Kollegen Wulf-Christian Ehrich steht heute mit Blick auf die Brexit-Auswirkungen zumindest schon eines auf der Haben-Seite fest: „Großbritannien wird ein guter und wichtiger Markt für NRW-Unternehmen bleiben – aber ein anderer als zuvor.“ Daniel Boss | redaktion@regiomanager.de

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Stefan Enders leitet den Bereich International bei der IHK Mittlerer Nied Foto: IHKerrhein

Wulf-Christian Ehrich ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK zu Dortmund Foto: IHK

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