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Serie – Big Data in der Praxis, Teil 2: Intelligente Prozessoptimierung

Im zweiten Teil der Serie Big Data in der Praxis zweigen wir, wie Big Data die Fertigungsprozesse in der Stahlindustrie optimieren kann.

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von Regiomanager 16.05.2019
Foto: Saarstahl AG | André Sarin

Die Stahlindustrie gehört historisch gesehen zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen und musste in der Vergangenheit bereits zahlreiche Transformationen wie z.B. die zunehmende Internationalisierung oder die Stahlkrise der 1980er-Jahre durchlaufen. Heute ist die Stahlindustrie in Deutschland vor allem für ihre gute Qualität bekannt. Ein Faktor, der innerhalb der Produktion durch schwankende Materialeigenschaften – fast die Hälfte des in Deutschland erzeugten Rohstahls wird aus Stahlschrott geschmolzen – oder produktionsbedingte Schwankungen innerhalb der Schmelzprozesse zu Abweichungen der Produktionsqualität führen kann. Eine globale Betrachtung der Stahlproduktion zeigt dabei, dass die Komplexität des Schmelzprozesses u.a. dazu führt, dass bei der Produktion der weltweit benötigten 1.040 Millionen Tonnen Stahl für das Jahr 2015 nahezu 334 Millionen Tonnen Schrott angefallen sind. Besonders signifikant war zudem, dass 234 Millionen Tonnen des Schrotts zunächst alle Produktionsprozesse durchlaufen hatten, bis sie als solcher identifiziert wurden. Ein guter Ansatz also, um mit Big Data den Fertigungsprozess zu optimieren.

iProdict bringt Big Data und Big Steel zusammen


Um die Wortschöpfung effektiver gestalten zu können und um einen weiteren Schritt in Richtung Industrie 4.0 zu machen, beteiligte sich die Saarstahl AG am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt iProdict (Intelligent Process Prediction based on Big Data Analytics). Als eines der Top-5-Stahlunternehmen in Deutschland produzierte die Saarstahl AG 2016 rund 2,5 Millionen Tonnen hochwertige Stahlprodukte für den Einsatz vor allem in der Automobilindustrie.
Ziel von Iprodict war, das von der Saarstahl AG zur Produktionsüberwachung eingesetzte Sensornetzwerk mit der betriebswirtschaftlichen Ebene zu verbinden. Dies ermöglichte es, Qualitätsschwankungen in der Stahlverarbeitung frühzeitig zu entdecken und sie durch Anpassungen der Produktions- bzw. Geschäftsprozesse zu antizipieren. Der so entwickelte Ansatz wurde über einen Zeitraum von drei Jahren von 2014 bis 2017 in Form eines integrierten Prototyps im LD-Stahlwerk Völklingen implementiert, getestet und validiert. Dies soll einerseits die Machbarkeit unterstreichen und andererseits die Nutzenpotenziale für weitere Fertigungszweige messbar machen. „iProdict hat uns wesentliche Erkenntnisse bezüglich der Architektur einer Big-Data-Plattform und ihrer Komponenten geliefert. Wir haben viel über die Herausforderungen und die richtige Herangehensweise bei Big-Data-Projekten gelernt“, erklärt Martin Baues, Technikvorstand der Saarstahl AG.

Interdisziplinäre Kompetenzen kombinieren


Das Besondere an iProdict war die Schaffung eines technisch-wissenschaftlichen Konsortiums. So erforschte man in einem interdisziplinären Team, bestehend aus Forschern, Industrieexperten sowie dem Anwender Saarstahl, einen intelligenten Ansatz zur automatisierten Verbesserung von Geschäfts- und Produktionsprozessen. Jeder Teilnehmer brachte dabei seine Kompetenz zielführend in das Projekt ein.
So fungierte das Deutsche Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) als Konsortialführer. Aus fachlicher Sicht brachte das DFKI seine Expertise im Bereich der intelligenten Geschäftsprozessadaption und -optimierung ein und wendete diese auf die Stahlwerksprozesse an. Experten des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme brachten ihre langjährigen Kompetenzen rund um die Entwicklung hochleistungsfähiger, skalierbarer Big-Data-Algorithmen und -Architekturen ein. Die Blue Yonder GmbH, eine der führenden SaaS-Anbieter für Predictive Applications im europäischen Markt, steuerte Technologien wie Predictive Modeling und Machine Learning bei. Der Kern der Predictive Applications ist dabei ein NeuroBayes-Algorithmus. Er erkennt in riesigen Datenmengen präzise Muster und erstellt fundierte Prognosen, um Entscheidungen zu automatisieren.
Als Spezialist für optische Qualitätskontrolle fokussierte sich die Pattern Recognition Company GmbH auf die visuelle Inspektion innerhalb der Stahlproduktion. „Unsere Aufgabe war die Entwicklung einer prototypischen Software zur Inspektion von Stahlträgern via Fluxprüfung“, erklärt CTO Dr. Thomas Käster. „Unter Letzterem versteht man die Inspektion eines mit einer fluoreszierenden Flüssigkeit benetzten Stahlträgers unter UV-Licht. Eine Aufgabenstellung, die in einer Dunkelkammer erfolgt und von zwei Mitarbeitern via UV-Brille durchgeführt wird.“ Durch den Einsatz einer automatischen visuellen Oberflächenkontrolle kann der Qualitätssicherungsprozess signifikant optimiert werden. Mit iProdict wird eine parallele Qualitätskontrolle an der laufenden Walzader ermöglicht. Das System analysiert hierzu das Bildmaterial auf potenzielle Fehler in Echtzeit (Descriptive Analytics), bewertet diese (Predictive Analytics) und unterbreitet dem Qualitätsprüfer eine begründete Handlungsempfehlung (Prescriptive Analytics), auf deren Basis der Prüfer eine qualifizierte Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen kann. Auch kann das System so Standardarbeitspläne für verschiedene Stahlsorten definieren.
Last, but not least hat die Software AG ihre Expertise im Bereich des Geschäftsprozessmanagements und der Echtzeitanalyse von Datenströmen beliebiger Größe, Quelle und Zusammensetzung in das Projekt eingebracht.
iProdict setzte auf den bestehenden Systems of Record eines Unternehmens – wie Manufacturing Execution Systems (MES), speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS), Sensornetzwerke, Process Execution Engines – auf und nutzte die verfügbaren Unternehmensdaten zur Identifikation des aktuellen Prozesszustands sowie zur Echtzeitanalyse und Prognose von Prozessabläufen. Die in den Analysen gewonnenen Informationen und Prozessprognosen wurden zur Adaption und Optimierung der Prozesse eingesetzt.
Die wesentlichen Herausforderungen des Projekts waren die Anbindung unterschiedlichster Systeme und Sensoren, die Verarbeitung großer heterogener hochfrequenter Datenmengen in Echtzeit, die Aufbereitung der Informationen für Entscheidungsträger und die teilautomatisierte Anpassung von Prozessabläufen auf Basis der Analyseergebnisse. Auch die Datenmenge sollte sich schnell als eine große Herausforderung darstellen. So fielen allein im ersten Jahr über das komplexe Netzwerk aus Laser-, Ultraschall-, Video-, Schwingungs- und Temperatursensoren zur Qualitätsüberwachung mehr als 100 Terabyte Prozess-Daten an. Dies entspricht dem Inhalt von über 30 Millionen Telefonbüchern. Diese Daten mussten aufgrund ihres Umfangs manchmal sogar mittels externer Festplatten unter den Akteuren zwecks Evaluierung per Post ausgetauscht werden.

Referenzarchitektur in der Prozessfertigung


Nach dem Verstehen bleibt letztlich die Frage nach dem Nutzen und der Erkenntnis aus dem Projekt. So führten die positiven Erfahrungen im Projekt iProdict bei der Saarstahl AG zum Aufbau einer neuen Data-Science-Abteilung, die in diversen Projekten mithilfe von Predictive Analytics Produktionsprozesse optimiert. Bei der Konzeption der neuen Stranggießanlage S1 flossen zudem die Erfahrungen des Projekts in die Bereiche Aufbau und Überwachung der Sensorik sowie Security und in die neue Big-Data-Plattform des Unternehmens ein. Die technische Innovation besteht aus einer intelligenten und neuartigen Kombination von innovativen Software-Komponenten und verschiedener Algorithmen aus dem Bereich Künstliche Intelligenz, insbesondere aus dem Teilgebiet Deep Learning. Das Pilotprojekt zeigte damit deutlich das Potenzial von iProdict als Referenzarchitektur nicht nur in Stahlunternehmen, sondern generell für alle Unternehmen der Prozessfertigung auf. André Sarin | redaktion@regiomanager.de
André Sarin
| redaktion@regiomanager.de

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