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Interview zum KI-Standort Deutschland: „Wir sollten endlich loslegen“

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Aber wie weit ist Deutschland auf diesem Gebiet? Fragen an den KI-Experten Kristian Kersting.

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von Regiomanager 14.09.2023
(© Lustre − stock.adobe.com) | Claas Syrt Möller

Regio Manager: Oft ist die Klage über zu wenig Naturwissenschaftler und Ingenieure in unserem Land zu hören. Wie sieht es auf dem Spezialgebiet der Künstlichen Intelligenz aus?

Kristian Kersting: Deutschland hat Nachholbedarf, aber es kann aufholen. Denn wir sind in der Grundlagenforschung wie auch in der Anwendungsforschung ziemlich gut aufgestellt. Wir sind auf allen führenden Konferenzen vertreten. Bei den Human Resources stehen wir gut da.

RM: Mit welchem Erfolg rekrutiert man auf dem internationalen Markt?

KK: Es gibt durchaus Beweggründe, nach Deutschland zu kommen. Wir bekommen gute Bewerbungen. Allerdings: Wenn wir ausländische Mitbürger holen wollen, dann müssen wir sie auch willkommen heißen. Es kann nicht sein, dass, wenn wir im Ausland anwerben wollen, immer nur Briefe auf Deutsch verschicken. Übrigens kehren im akademischen KI-Bereich derzeit viele Kräfte nach Deutschland zurück.

RM: Laut einer Studie verlassen rund 40 Prozent der Top-Wissenschaftler Deutschland aber wieder, vor allem in die USA oder die Schweiz. Wie könnte man sie halten?

KK: Ich war in Berufungskommissionen für Professuren. Da wird man zum Beispiel gefragt: „Ich habe derzeit Zugriff auf die und die Infrastruktur, was können Sie mir bieten?“ Und da muss man leider oftmals still sein. Es hapert am Commitment sowohl der Industrie als auch der Politik, in die entsprechenden Infrastrukturen – gerade Computer-Infrastruktur – zu investieren. Schauen wir mal auf China. China hat nach etwa zehn Jahren verstanden, dass es viel mehr Geld investieren muss. Man hat verstanden, dass irgendwann aus Masse Qualität wird, also: Wenn Sie nur genügend in etwas investieren, muss dabei auch zwangsläufig mehr Qualität rauskommen.

RM: Was steht genau auf Ihrem Wunschzettel?

KK: So wie wir in Hamburg einen Rechner haben, der Klimamodelle berechnet, brauchen wir Höchstleistungsrechner, die dediziert für KI zuständig sind. Das fehlt. Immerhin haben wir als „Hessian.AI“ hier in Darmstadt am GSI Helmholtzzentrum einen sehr guten KI-Rechner, der durch ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und vom Land Hessen kofinanziert wurde. Wir haben ihn „42“ getauft, denn aus Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ wissen wir, dass die Antwort auf alle Fragen 42 ist.

RM: Wie sieht es in Amerika aus?

KK: In Amerika geht meines Wissens die Industrie auch in Vorleistung und daher gibt es eine Abhängigkeit. Das will ich nicht bewerten. Es hat Vor- und Nachteile. Allerdings hat nun die US-Regierung entschieden, zwei Milliarden Dollar in die Infrastruktur zu stecken, und zwar in eine AI-Cloud [Artificial Intelligence = Künstliche Intelligenz], die dann insbesondere den Universitäten und Forschungseinrichtungen zur Verfügung gestellt wird. Dort ist das Problem nun erkannt worden. Wenn ich höre, dass jetzt 20 Milliarden Euro für einen neuen Teilchenbeschleunigerring im Kernforschungszentrum CERN bei Genf ausgegeben werden, dann freue ich mich für die Physik. Aber ich verstehe einfach nicht, warum es niemandem wert ist, in die KI 20 Milliarden zu investieren. Wir sehen doch alle, wie die Welt durch KI-Systeme neu geordnet wird. Wir sollten endlich loslegen.

RM: Sie sagen, die deutsche KI-Forschung sei gut aufgestellt. Aber die ganze Welt lachte über unser Land, als Coronadaten vor allem gefaxt wurden – was läuft da schief?

KK: Es ist eine Kombination aus „German Angst“, unserem Kulturverständnis, für das eine händische Unterschrift mehr zählt als eine digitale, und schließlich der Überzeugung: Wir sind doch gut, wir können doch alles hinkriegen. In Summe entsteht eine Behäbigkeit, die in Deutschland schon zu einem Dinosauriersterben bei größeren Firmen geführt hat. Bei uns wird Künstliche Intelligenz außerdem vielfach als Angriff auf die Hermeneutik [Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens] angesehen, und das trifft auch die Menschen, die sich damit beschäftigen. Geisteswissenschaften sind so anregend und wichtig, aber Informatiker wurden bei uns lange als „Nerds“ angesehen. Mich fragten damals viele: „Wieso studierst du denn Informatik? Willst du etwa den göttlichen Funken in Abrede stellen? Das bisschen Programmieren kann ich noch alleine, das ist ja alles keine Wissenschaft.“ Aber wir sind respektable Wissenschaftler, die die Welt verändern. Wir forschen an Antworten auf die Fragen: Was war vor dem Urknall, wer sind wir, wo kommen wir her?

RM: Wer in China eine Shopping Mall betritt, wird über Gesichtserkennung sofort identifiziert. Einer der Vorbehalte gegen KI in Deutschland ist Datenschutz.

KK: Wenn man unserer Community in Deutschland und Europa dasselbe Geld gibt, dann kriegen wir das hin, aber eben nach unseren Wertevorstellungen. Man kann die KI-Modelle auch so trainieren, dass der Datenschutz eingehalten wird. Außerdem haben wir Industriedaten, und das ist doch ein Asset. Das sollten wir ausnutzen. ich glaube, es gibt ganz viele Vorteile loszulegen.

RM: Welche KI-Anwendungen werden von der Wirtschaft schon eingesetzt, ohne dass sich die Öffentlichkeit im Allgemeinen dessen bewusst ist?

KK: Vielfach in der Medikamentenentwicklung. Da gibt es Systeme, die Fehler in der Produktion erkennen, die sogenannte Root Cause Analysis. Es gibt einzelne Systeme, die versuchen, das Anlernen neuer Fachkräfte durch Virtual Reality, durch Augmented Reality zu unterstützen. Manche Unternehmen nutzen KI, um zu verstehen, was sie in Verträgen so alles unterschrieben haben. In der Produktempfehlung wird KI schon viel eingesetzt, außerdem in der Medizin bei der Interpretation radiologischer Befunde. Natürlich muss man dabei Haftungsfragen beachten: Wenn der Mediziner falsch entscheidet, kann er das nicht auf das KI-System abwälzen.

RM: Könnte Ihre Arbeit als Professor auch irgendwann von KI erledigt werden?

KK: In der Lehre könnte das passieren, ich denke da an Vorlesungen. Fragen beantworten können KI-Systeme auch. Ob man das toll findet, ist eine andere Sache. Aber es gibt viele Dinge, die uns das Leben erleichtern können, etwa das automatische Generieren von Powerpoint-Folien aus Texten. Das Wegfallen von Jobs wird nicht körperlich Arbeitende oder die vermeintlich einfachen Jobs betreffen. Es gibt wahrscheinlich keinen Job, der nicht irgendwann durch KI, eventuell zusammen mit Robotern, abgedeckt werden könnte. Wichtig ist immer: Nicht alles darf gemacht werden.

RM: Wie ist Ihr Ausblick?

KK: Optimistisch. Ich habe mich lange gefragt, warum Bosch nichts mit KI macht, und nun hören wir gerade, dass Bosch eine Art ChatGPT baut, um die Prozesse im Unternehmen zu optimieren und die Produktentwicklung zu verbessern. Siemens arbeitet an ähnlichen Systemen.

Claas Möller | redaktion@regiomanager.de Claas Syrt Möller
| redaktion@regiomanager.de

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