Management

Prokrastination: Der Fluch der Selbstbestimmung

Warum wird derzeit so viel über Prokrastination diskutiert? Hat das vielleicht mit dem Homeoffice-Trend in manchen Branchen zu tun?

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von Regiomanager 16.11.2022
© ­­­Nuthawut − stock.adobe.com | Emrich Welsing

Okay, ich gebe es zu: Mit diesem Text hätte ich schon vor Wochen beginnen können. Der Auftrag lag vor und auch der Abgabetermin stand fest: Redaktionsschluss – das magische Druckwort in unserer Branche. Aber es wäre ja zu einfach gewesen, dem Chefradakteur einen Text über Prokrastination schon Tage vor dem eigentlichen Abgabetermin einzureichen. Lieber erst mal abwarten und flugs einige andere Dinge erledigen. In der Tat habe ich dann am Abend vor dem Abgabetermin begonnen zu schreiben. Allerdings ging mir das Thema zuvor immer wieder durch den Kopf. Ich fand zahlreiche Artikel anderer Journalisten zu dem offensichtlichen Trendthema, recherchierte im Netz, fragte im Freundeskreis: „Wie geht ihr mit Prokrastination um?“ – „Womit bitte?“ – „Na, mit dem, was man auch Aufschieberitis bis zur letzten Sekunde nennt.“ – Na also, ich habe doch rechtzeitig begonnen mit dem, was in unserer Branche Recherche heißt und ein wesentlicher Teil der Arbeit ist. Natürlich fielen die Antworten und Strategien der befragten Quellen sehr unterschiedlich aus. Einige schieben ihre To-dos immer „auf die lange Bank“ und haben dabei ein schlechtes Gewissen: „Beim nächsten Mal fange ich ganz bestimmt früher an!“ Andere hassen es, „auf den letzten Drücker“ fertig zu werden, und erledigen ihre Aufgaben so schnell wie möglich – können es kaum abwarten. So bin ich auf das spannende, jedoch deutlich weniger diskutierte Gegenteil zu meinem Aufgabenwort gekommen: Präkrastination! Wer präkrastiniert, geht seine Aufgaben nach Möglichkeit sofort an – spontane Erledigung ohne großes Nachdenken garantiert. Aber während die sehr schnelle Erledigung der Dinge nur als „Drang“ bezeichnet wird, definiert man Prokrastination gleich als „pathologische Störung“ zum unnötigen Vertagen von Aufgaben.


Tipplisten ohne Ende


Bin ich also pathologisch gestört? Selbst einige Krankenkassen scheinen das so zu sehen, denn auf ihren Websites bieten sie listenweise psychologische Tipps: „Wie Sie sich vom Prokrastinieren verabschieden“. Mir wird geraten, mein Aufschieben zu hinterfragen, meine Aufgaben besser zu priorisieren, sie disziplinierter zu planen und große Aufgaben in kleine aufzuteilen. Auch soll ich Störungen und Ablenkungen vermeiden, mich an Arbeitsrituale gewöhnen und gegebenenfalls professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Denn, so muss ich staunend erfahren: Prokrastination tritt häufig zusammen mit einer Depression auf oder kann Angststörungen, ADHS sowie eine Psychose begleiten. Halt, stopp!
Tipplisten dieser Art sollen wohl mit ihrem Allgemeinheitsanspruch jede nur erdenkliche Möglichkeit berücksichtigen, ohne dass alles gleich zutreffen muss. Jede Leserin oder jeder Leser kann sich hier die passenden Punkte herauspicken, ohne sich gleich in allen Punkten schuldig zu fühlen. Und wo bleiben die Individualität unserer Persönlichkeit, der Erfahrungshintergrund des Alters, Motivation und Inspiration für ein Thema oder einfach die örtlichen Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz? „Grenzen Sie Arbeit und Freizeit voneinander ab“, lese ich in einer Checklist der AOK und erschrecke bei dem Satz: „Arbeiten ist ab einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr erlaubt.“ Damit ist mein langjähriges Geschäftsmodell als freier Journalist grundlegend infrage gestellt sowie meine Leidenschaft, vorzugsweise im Homeoffice so lange wie notwendig zu arbeiten. Sind es nicht gerade die Nachtstunden, in denen man ganz ohne Störung oder Ablenkung so richtig kreativ gedankenarbeiten kann?


Arbeit und Freizeit
besser trennen?


Kann es sein, dass Prokrastination aktuell so oft zum pathologischen Thema gemacht wird, weil sich der Trend zur Arbeit im Homeoffice als Folge der Corona-Maßnahmen in Deutschland sprunghaft verdoppelt hat? Und spricht daraus vielleicht das grundlegende Misstrauen, dass es Heimarbeiter nicht angemessen verstehen, Arbeit und Freizeit voneinander abzugrenzen? Drohen die gemeinhin als fleißig und diszipliniert geltenden Deutschen zu Aufschiebern zu werden? Ist Prokrastination also eine bisher unentdeckte Long-Covid-Folge?
Schauen wir nach beim Statistischen Bundesamt: Innerhalb von drei Jahren (2019 bis 2021) ist die Quote aller erwerbstätigen Deutschen, die „zumindest gelegentlich im sogenannten Homeoffice“ arbeiten, im Durchschnitt von 13 auf 24,8 Prozent angestiegen. Allerdings gibt es Wirtschaftszweige, wo sich die Aufgaben kaum im Homeoffice erledigen lassen. Der Einzelhandel (ohne Kfz-Handel), das Bau- und Ausbaugewerbe sowie das Gesundheitswesen liegen deutlich unter 10 Prozent Homeoffice-Anteil und damit am Ende der Tabelle. Die Spitzenreiter mit der höchsten anteiligen Arbeitsquote am heimischen Schreibtisch bilden IT-Dienstleistungen (75,9 Prozent), Verwaltung, Unternehmensführung und Unternehmensberatung (71,3 Prozent) sowie Versicherungen und Pensionskassen mit 66,2 Prozent. Auf den weiteren Plätzen mit hohem Homeoffice-Anteil folgen Forschung und Entwicklung, Energieversorgung, Erziehung und Unterricht, Finanzdienstleistungen sowie die öffentliche Verwaltung. Es sind also die stark administrativen Branchen und Aufgaben mit einem hohen Grad an digitaler Daten- und Informationsverarbeitung, die das Potenzial für mehr Homeoffice bieten, wobei die Statistiker auch sagen, dass selbst in der Corona-Zeit mit der gesetzlich verordneten Pflicht zum Angebot von Homeoffice-Möglichkeiten diese Arbeitsform doch eher die Ausnahme als die Regel blieb.


Das Yin und Yang der Arbeit


Was sagt uns der Ausflug in die Homeoffice-Statistik nun über das vermeintliche Problem der Prokrastination? Manch ein journalistischer Kollege erklärt Prokrastination zum „Fluch der Selbstbestimmung im Homeoffice“ und bezeichnet die Freiheit der eigenverantwortlichen Arbeitsgestaltung als „gefährlichen Komfort“. Spricht da vielleicht die altväterliche Vorstellung, dass Arbeit hart, entbehrungsreich und bis an die Schmerzgrenze fremdbestimmt sein muss? Und wer den Vorgaben nicht entspricht, ist automatisch selbst der Schuldige? Alle Verallgemeinerungen führen hier nicht zum Ziel. Die Erledigung so mancher Aufgabe dauert halt länger, wenn das Thema noch nicht den nötigen Reifegrad zur Fertigstellung hat. Und was zu schnell erledigt wurde, nur um es baldmöglichst vom Tisch zu bekommen, muss im Ergebnis nicht gut sein. Auch Tipplisten gegen das Präkrastinieren sprechen von besserer Arbeits-Strukturierung, disziplinierter Organisation und Planung – man hinterfrage seine Arbeitsgeschwindigkeit. Ist es also nicht eher so, dass sich Pro- und Präkrastination nach dem Yin-und-Yang-Prinzip gegenseitig ergänzen – wir also manche Aufgaben vorziehen und schneller erledigen, weil andere noch etwas mehr Zeit brauchen, bevor sie erledigt werden können? Hier muss jede und jeder den individuell optimalen Weg für sich finden. Emrich Welsing
| redaktion@regiomanager.de

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