Kolumne

Parallelwelten: Gefühlte Wahrheiten

Die eigene Wahrnehmung sollte nicht auf den gefühlten Wahrheiten anderer fußen, meint Simone Harland.

Avatar
von Regiomanager 21.09.2021
(© Eugenio Marongiu − stock.adobe.com)

„Guten Tag, ich bin ein Pferd. Wie? Das glauben Sie nicht? Nur weil ich nicht auf vier Beinen gehe und weder Schweif noch Hufe habe? Was für eine Frechheit! Ich fühle mich als Pferd. Also bin ich eins.
Ja, es mag sein, dass ich nicht aussehe wie ein Pferd. Trotzdem steckt in mir mehr Pferd, als Sie glauben. Wie bitte? Sie wollen mich trotzdem nicht als Pferd akzeptieren, weil ich spreche, statt zu wiehern, und menschliche Kleidung trage? Was bilden Sie sich ein? Ich habe das Recht, dass Sie mich als Pferd ansehen. Verweigern Sie mir dieses Recht, sind Sie ein Pferdehasser und ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“
Klingt absurd? Stimmt. Ähnliches ist heute jedoch leider allzu oft Realität. Gefühlte Wahrheiten nehmen zu, objektive Tatsachen werden nicht länger als allgemeingültig anerkannt, Fakten ignoriert oder in Form von Fake News neu interpretiert.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Mensch sich als Pferd fühlt. Soll er doch, seine Sache. Trotzdem darf er nicht erwarten, dass andere ebenfalls das Pferd in ihm sehen. Verlangt er das von anderen, betreibt er Gaslighting: Er versucht, andere von der eigenen Wahrnehmung zu überzeugen, obwohl sie objektiv falsch ist. Er droht sogar damit, die andere Person als feindlich abzustempeln. Damit ruft er Schuldgefühle in anderen hervor, manipuliert sie auf diese Weise, um den eigenen Willen, die eigene gefühlte Wahrheit durchzusetzen. Oft springen ihm andere als Folge tatsächlich bei, verleugnen ihre eigene Wahrnehmung, weil diese ja die andere, vielleicht sogar vermeintlich schwächere Person verletzen könnte oder sie selbst als modern und weltoffen angesehen werden wollen. Menschen, die ihre eigene Wahrnehmung dagegen nicht verleugnen, werden im Gegenzug ausgegrenzt und als nicht inklusiv beschimpft, denn „man muss doch alle mitnehmen und alles verstehen“ – ein Widerspruch in sich.
Richtig ist: Man kann vieles (nicht alles) verstehen, aber man muss sich dennoch die gefühlte Wahrheit anderer nicht zu eigen machen. Verständnis bedeutet nicht, die eigene Wahrheit zu verleugnen. Der Anspruch, überall dazugehören zu müssen, für alle überall Inklusion zu fordern, ist m. E. nach ebenfalls ein falscher. Denn er negiert, dass es nun mal Unterschiede zwischen Menschen gibt und nie alle überall eingeschlossen werden (können). Berufsverbände etwa nehmen nur diejenigen auf, die eine entsprechende Ausbildung haben.
Will man es allen recht machen, ist niemandem gedient. Es gibt nun einmal Unterschiede. Zwischen Menschen, Einstellungen, auch zwischen den gefühlten Wahrheiten verschiedener Personen. Das anzuerkennen brächte uns einen Schritt weiter: Man braucht niemanden abzustempeln, weil er nicht die eigene Meinung vertritt oder anders ist als man selbst. Man muss ihn trotzdem nicht mögen, auch das nicht. Und Menschenfeinde, die nur dem eigenen Wohl verpflichtet sind und anderen ihr Lebensrecht absprechen, braucht tatsächlich niemand. Die darf man auch als solche benennen. Doch warum gelingt es so oft nicht, Meinungen und, meinetwegen, auch gefühlte Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen? „I agree to disagree“ sollte doch in vielen, nicht allen Fällen möglich sein.
Vielleicht sind es – öfter, als wir denken – die eigenen Verletzungen, die es uns so schwer machen, andere und ihre Einstellungen – ihre Wahrheiten – anzuerkennen. Vielleicht ist es der Wunsch, selbst anerkannt zu werden. Dennoch gilt: Andere dürfen anders sein. Punkt.
Das ist sogar gut, weil es für die immensen Probleme, vor denen die Welt steht, keine einfachen Lösungen gibt – siehe Klimawandel, Pandemien oder, damit verbunden, notwendige, z.B. digitale Veränderungen in der Arbeitswelt. Wenn viele ihre unterschiedlichen Lösungsansätze präsentieren, kommt mehr dabei rum, als wenn alle der gleichen Ansicht sind. Deshalb ist es stets gut, darüber nachzudenken, ob es nicht vielleicht an der anderen Meinung oder auch der gefühlten Wahrheit etwas gibt, das in die Überlegungen zu einer Lösung einfließen kann. Und wenn es nur der Konsens ist, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden darf, sofern das andere in ihren Freiheiten nicht beschränkt. Und damit ist auch die Meinungsfreiheit gemeint: Ich darf – trotz allem – weiterhin die Meinung haben, dass ein Mensch kein Pferd ist, auch wenn er sich als solches fühlt.
Simone Harland | redaktion@regiomanager.de

Teilen:

Newsletter abonnieren

Newsletter abonnieren und Brancheninfos erhalten

Datenschutz*