Privat im Revier

Künstlerporträt Ursula Meyer: Psychedelische Träume in Beton und Papier

Ursula Meyer verwandelt Wände in leuchtende Farbwelten – und schneidet im Atelier filigrane Schattenwelten aus schwarzem Papier. Diese Künstlerin balanciert zwischen Monumentalität und Intimität.

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von Emrich Welsing 17.11.2025 Anzeige
Ursula Meyer bei der Ausstellung „S3“ in Oberhausen (© Andrea Kiesendahl)

In einem alten Essener Wasserkraftwerk, direkt am Ufer der Ruhr, summen noch heute die Turbinen und erzeugen Energie. Nur wenige Meter weiter entlädt sich in einem Nebengebäude die kreative Energie einer ganzen Gruppe in leidenschaftlicher Kunst. Auch Ursula Meyer hat hier das Zentrum ihrer dynamischen Vielfalt gefunden. Die Atmosphäre inspiriert. Zwischen leuchtenden Stoffbahnen und schwarz-weißen Scherenschnitten sitzt sie in ihrem kompakten Atelier und plant die nächsten Termine: Ausstellungen, Outdoor-Projekte, Workshops. Die Ruhr fließt nur wenige Meter vor ihrem Fenster vorbei, drinnen hängen geometrische Kompositionen in Orange, Türkis und Violett neben filigranen Paper Cuts. „Ein Träumchen ist dieser Ort hier für mich“, sagt die 37-Jährige Welt-Art-istin.

Von Argentinien ins Ruhrgebiet

Geboren 1987 in San Juan, Argentinien, führte ihr Lebensweg über China, Libanon und Südafrika schließlich nach Essen – die Familie folgte den Job-Stationen des Vaters. „Ich wurde ständig rausgerissen und musste mich neu integrieren. Dann bin ich hier im Ruhrgebiet geblieben – und fühle mich nun gesettelt“, erklärt sie ihre Entscheidung für diese Metropole der Vielfalt. 2008 begann sie ihr Studium an der Folkwang Universität der Künste, 2013 schloss sie als Kommunikationsdesignerin mit Schwerpunkt Illustration und Experimenteller Gestaltung ab.

Den entscheidenden kreativen Impuls erhielt sie mit 15 bei einem ersten Kontakt in die Graffiti-Szene. „Das hat mir die Augen geöffnet. Und damit bin ich an große Wände gegangen“, erinnert sie sich. Was als jugendliche Rebellion begann, wurde zur Lebensaufgabe – geprägt von den multiplen kulturellen Einflüssen ihrer Kindheit.

Mural Art der guten Laune

Ihre künstlerische Entwicklung folgt einer klaren Linie: von eher gegenständlichen Graffiti-Figuren hin zur abstrakter Monumentalität. „Im Illustrationsstudium sollten wir mal 1.000 Menschenbilder malen. Da haben sich einige Formen und Figuren herauskristallisiert, die ich dann immer weiter entwickelt habe“, erzählt Ursula Meyer. Inspiriert von ihren Reisen nach Indien entstanden psychedelisch anmutende Charaktere – maskenhaft, tribal, mit großen Augen aber auch ornamentalen Mustern. „Ich versuche meinen Bildern aber immer eine positive Message zu geben. Die Menschen haben genug von schlechten und dramatischen News“, sagt sie und erzeugt damit ein fast therapeutisches Erlebnis der guten Laune im Stadtbild.

Doch seit einigen Jahren wandelt sich ihre Bildsprache. Die figurativen Charaktere gehen zunehmend in geometrische Abstraktionen über – Farbfelder, die ineinander morphen, Formen, die vibrieren. „Für mich ist das eine größere Challenge. Es interessiert mich mehr“, erklärt die Künstlerin den spürbaren Wandel. Trotzdem fragen viele Auftraggeber noch nach ihrem „Classic-Style“ – jenen ikonischen Figuren, mit denen sie nicht nur im Ruhrgebiet bekannt geworden ist.

Farbexplosion im öffentlichen Raum

Ihre monumentalen Murals sind Farb-Symphonien, die jeden Zentimeter des Untergrunds füllen. Das 90-Meter-Werk „Balance of Opposites“ zum Beispiel in Essen-Horst erstrahlt in leuchtender Farbdynamik – ein psychedelischer Traum an einer langen Mauer. „Kunst im öffentlichen Raum ist für mich ein politisch-sozialer Akt. Du greifst mit Farbenergie in ein Stadtbild ein, das sonst von Werbung dominiert wird“, erklärt sie ihre Philosophie.

Dabei ist ihre Arbeitsweise präzise geplant: Mit dem iPad fotografiert sie die Wand, skizziert mit dem Apple Pencil direkt im Foto, entwickelt Farbentwürfe bis das Konzept steht. „Bei großen Wandmalereien musst du geplant rangehen. Sonst stehst du da draußen und überlegst: Welche Farbe jetzt kommt?“ Pragmatismus und Kreativität ergänzen sich, denn auch als Künstlerin muss Ursula Meyer ökonomisch denken. Trotzdem reagiert sie auf die spontanen Gegebenheiten vor Ort, wenn sich ein Projekt mal anders entwickelt. Allein das Wetter kann einen schönen Plan dabei schon mal über den Haufen werfen.

Kreativer Gegenpol: Scherenschnitte

Der Kontrast könnte kaum größer sein. Was an den Wänden in explosiver Farbigkeit erstrahlt, wird im Atelier zur meditativen Negativarbeit – im kunstvollen Scherenschnitt. Die inspirierende Technik entdeckte Ursula Meyer 2010 während eines Dokumentarkurses an der Folkwang – fast zufällig. „In der Malerei kann man immer wieder reparieren. Beim Schneiden muss jeder Griff sitzen – hier ist Konzentration gefragt, denn sonst fehlt die Kontrolle. Diese Herausforderung motiviert mich sehr“, erklärt sie die Faszination für die eher seltene Kunsttechnik.

Mit dem Skalpell schneidet sie dann filigrane Formen aus schwarzem Papier – organische Muster, maskenhafte Gesichter mit Spiralaugen, die an indigene Kunst erinnern. In ihren Leuchtkästen verwandeln sich die Scherenschnitte in durchscheinende Traumbilder – fragil, transparent, das genaue Gegenteil zu den farbdichten Murals. „Bei den Scherenschnitten arbeite ich mit dem Negativraum“, erklärt Ursula Meyer den fundamentalen Unterschied. Beide Techniken entspringen jedoch derselben Quelle – der interkulturellen Prägung, dem Drang, Ästhetik und Komposition zum Leuchten zu bringen. „Für mich geht es um Ästhetik, um Gleichgewicht im Bild, um harmonischen Ausgleich. Das ist mein persönlicher Antrieb.“

Mehrgleisig durch die Kunstwelt

Als Mitbegründerin der Flabbergasted-Crew und Veteranin der Subkultur prägt Ursula Meyer die alternative Kunstszene im Ruhrgebiet seit über einem Jahrzehnt mit. Sie kuratiert auch Ausstellungen, organisiert Festivals wie Street Dreams, gibt Workshops für Kinder und Jugendliche. „Als Künstlerin muss man mehrgleisig fahren. Nur eine Sache machen – damit käme ich nicht klar“, sagt sie und lacht, weil ihr die Vorstellung so irreal erscheint.

Ihre Pinnwand mit künftigen Projekten dokumentiert die Rastlosigkeit: Doppel-Ausstellung mit Leo Namislow in Essen, Modus Festival in Gelsenkirchen, Mode-Kunst-Kollektion, Workshops und – Japan 2026. Was wäre ihr künftiges Traumprojekt? „Mit meiner Familie und Freunden möchte ich in einem warmen, exotischen Land mit vielen Farben durch die Straßen gehen und überall schöne Bilder malen – ohne große Gerüste. Einfach Urban-Art machen, so wie sie ursprünglich war.“

 

Über die Künstlerin

Name: Ursula Meyer

Geboren: 1987 in San Juan, Argentinien

Lebt und arbeitet: Essen, Deutschland

Ausbildung: 2007–2008: Nelson Mandela,  Metropolitan University, Südafrika (Fakultät für Kunst), 2008–2013: Folkwang Universität der Künste, Essen – Diplom in Kommunikationsdesign und Experimenteller Gestaltung

Tätigkeitsfelder: Freischaffende Künstlerin, Illustratorin, Szenografin, Kuratorin, künstlerische Leiterin von Festivals

Künstlerische Identität: Mitbegründerin der Flabbergasted-Crew, Veteranin der Subkultur im Ruhrgebiet seit 2013

Ausgewählte Projekte & Ausstellungen

2025

– Teilnahme als Mural Artist, Femgazed Festival, Witten
– Mural-Projekt, Bee Project, Italien
– Detective Show X, Aachen
– Projekt in Bosnien & Herzegowina

2024

– Spatial Design H2OE / Game Center, Herne
– Spatial Design für das Foyer der RWTH University Aachen (in Kooperation mit Giza)
– Bühnendesign-Kollaboration, Theater Oberhausen
– 100 m² Bodenmalerei für May Day Celebrations, Recklinghausen

2023 & 2024

Kuration & Organisation, Street Dreams Urban Art Festival

Zusätzliche Aktivitäten

– Regelmäßige Teilnahme an alternativen und subkulturellen Festivals in ganz Deutschland
– Entwicklung interdisziplinärer Kunstprojekte
– Kulturelle Bildungsarbeit und Community Engagement im Ruhrgebiet
– Co-Gründerin verschiedener künstlerischer Initiativen, die die Subkultur-Szene der Region geprägt haben

post@ursulameyer.info
www.ursulameyer.info
www.instagram.com/ursula_meyer_art

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Fotostrecke

„Humanity unite“ – ein interaktives Kunstwerk, bei dem Besucher ihre Wünsche auf Stofffransen schreiben und sie an das Bild knüpfen (© Ursula Meyer)

„Femgazed Festival“ in Witten, 2025 (© Ursula Meyer)

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