Die Antworten sind unterschiedlicher Natur, zwischen den Zeilen schwingt jedoch immer mit, dass Deutschland eine Wüstenei, ein Entwicklungsland, ein Small Player sei, was die Tech-Branche anbelangt. Ausgesprochen sind derartige Vorwürfe schnell, doch wie verhält es sich in der Realität: Ist Deutschland wirklich auch abseits seiner bekannten Internetausbau-Problematiken ein Hinterbänkler in Sachen Digitalisierung? Und wenn es stimmt, worin liegen die Gründe?
Warum die Anwürfe per se überzogen sind
„Deutschland hat in der Tech-Welt nichts zu melden“. Es braucht nur etwas gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dass eine derartige Verallgemeinerung zumindest hinterfragungswürdig ist – so, wie es die allermeisten Generalisierungen sind. Denn dass die Bundesrepublik auf dem Gebiet der zeitgenössischen digitalen Technik gar nichts zu vermelden hätte, ist bei Lichte betrachtet ein unhaltbarer Vorwurf. Fangen wir bei etwas Grundlegendem an, was für viele Menschen und auch Firmen der Inbegriff von Tech ist, Social Media. Natürlich, das erste große Sozialnetzwerk, MySpace, wurde ebenso in den USA ersonnen wie Facebook. Dabei scheinen viele jedoch zu vergessen, dass Deutschland Mitte der 00er Jahre hier ebenfalls mit sehr gutem Beispiel voranging.
Denn als Facebook noch primär ein Portal für US-Studierende war, wurde hierzulande wer-kennt-wen.de gegründet und außerdem das Projekt der vz-Netzwerke (u.a. studivz.de).
Wer-kennt-wen.de schaffte es zu seinen Spitzenzeiten, mehr als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung zu versammeln, gehörte noch 2012 zu den zehn meistbesuchten deutschsprachigen Internetportalen – zu einer Zeit, als Social Media überhaupt erst breitgesellschaftlich Fahrt aufnahm. Auch war nicht allein das Emporkommen von Facebook für den Niedergang der 2006 von zwei Koblenzer Studenten gegründeten und 2014 abgeschalteten Plattform verantwortlich, sondern nach einhelliger Meinung vieler Nutzer vor allem eine Design-Umstellung. Sie sorgte dafür, dass das zuvor für seine Einfachheit vielgelobte Portal nicht mehr verfangen konnte und noch mehr User verlor.
Kaum ein anderes Land konnte ein dermaßen starkes, indigenes Sozialnetzwerk vorweisen. Auch heute ist dies nur in denjenigen Ländern so, in denen der Staat restriktiv gegen Meinungsfreiheit vorgeht – namentlich Russland und China, wo Facebook nur ein schwaches Standing hat (Russland) oder gar gesperrt ist (China) und stattdessen einheimische Plattformen vorherrschen.
Doch es ist nicht nur Social Media, wo Deutschland durchaus respektable Tech-Meriten vorzuweisen hat. Und auch nicht nur die Vergangenheit.
- So gibt es hierzulande mit ifesca einen bedeutenden Akteur in Sachen künstlicher Intelligenz mit Schwerpunkt Prognostizierung und Automatisierungin der Energiewirtschaft.
- Wir haben einen Entwickler mobiler Spiele, Kolibri Games, der erst kürzlich für einen dreistelligen Millionenbetrag zu 75 Prozent an den Gaming-Giganten Ubisoft verkauft wurde.
- Wir haben mit SAP den drittgrößten, an der Börse gehandelten Softwarehersteller der Welt, der ohne Übertreibung in seinem Gebiet in einem Atemzug mit Namen wie Oracle und Sage genannt werden darf.
- Es gibt mit Zalando einen Online-Modehändler, der außerhalb Europas sogar kein echtes Pendant hat, selbst in den USA nicht.
- Und ja, trotz Skandal muss hier auch Wirecard genannt werden. Das Unternehmen war über Jahre hinweg einer der maßgeblichen globalen Motoren in Sachen bargeldloser Zahlung.
Zusammengefasst: Es ist schlicht und ergreifend unwahr, dass Deutschland in Sachen Digitaltechnik aus unternehmerischer Sicht der Welt vollkommen hinterherhinkt. Das Land kann im Gegenteil eine Menge innovativer Entwicklungen und Unternehmen vorweisen – auch gegenwärtig.
Allerdings lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass Deutschland eben auch ein Silicon Valley fehlt und dass das Land global nicht gerade in einem Atemzug mit beispielsweise den USA genannt wird, vor allem, was die Tech-Gründerkultur anbelangt. Manches davon lässt sich mit einem schlichten Image-Problem erklären. Anderes ist jedoch auch hausgemacht.
Warum die Anwürfe auch einen wahren Kern haben
Warum es kein deutsches Facebook (mehr) gibt, wurde bereits erläutert. Das erklärt aber längst nicht, warum es hierzulande vielfach an jenen kleinen, mutigen Startups mangelt, welche für die Tech-Branche generell so bezeichnend sind. Zwar wurde auch 2020 die Majorität aller Startups im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie gegründet, aber es muss auch einen Grund geben, warum es beispielsweise in einem für die Ursprünge des Mobilfunks so relevanten Land nur eine verschwindende Minderheit von Smartphone-Herstellern gibt – die zudem in absoluten Nischen operieren und international praktisch unbekannt sind. Zudem gibt es in dem Segment sogar nur einen Hersteller, der hierzulande seinen Sitz hat und produzieren lässt.
Die Gründe für diesen Mangel an „großen, deutschen, digitalen Ideen“ sind durchaus differenzierter Natur:
- Das deutsche Staats- und Steuerwesen ist nach einhelliger Meinung nicht gerade ein Freund von Neugründungen und Kleinunternehmen – äußerst höflich formuliert. Obwohl zahllose Politiker immer wieder betonen, wie wichtig ihnen Gründer seien, sieht es in der Realität völlig anders aus. Hier werden junge Unternehmen in Sachen Steuern und Bürokratie kaum anders behandelt als etablierte Großbetriebe. Für nicht wenige Gründer sind die ganzen Eintragungs- und Anmeldungsprozesse, die Regularien vom Arbeits- über den Brandschutz bis zur Zeiterfassung ein sehr großes Hemmnis. Und dass nicht nur sprichwörtlich schon Abgaben zu leisten sind, bevor ein Unternehmen auch nur einen Cent Umsatz gemacht hat, ist ebenso eine Realität wie die Tatsache, dass die Bundesrepublik von Unternehmen generell recht hohe Steuern verlangt.
- Die deutsche Mentalität ist eine, in der nach wie vor die Maßgabe von absoluter Perfektion hochgehalten wird. Diese Maßstäbe werden leider auch an Gründer angelegt. Eine Idee muss schon in der Planungsphase in fast schon preußischer Manier durchexerziert sein, muss perfekt sein. Auch dies benachteiligt speziell Tech-Startups in höchstem Maße, geht es doch hier allzu oft nur darum, zunächst einmal eine gute Idee zu haben und sie in einer sicheren Umgebung zur Serienreife entwickeln zu können.
Wenn jedoch von Anfang an Perfektion verlangt wird, verkümmern gute Ideen oft, bevor überhaupt ein Gewerbe angemeldet wurde. - Deutschland hat (besonders im Vergleich mit den USA), eine völlig andere Fehlerkultur. Hierzulande gibt es tendenziell mehr Misstrauen gegenüber neuen Ideen und den Drang, auf Sicherheit zu setzen. Etwas auszuprobieren, zu scheitern und einfach neu zu starten, hat hierzulande einen deutlich negativen Touch.
Das wiederum sorgt dafür, dass nur ausnehmend mutige Personen sich überhaupt trauen, das „Wagnis Selbstständigkeit“ anzugehen. - Es gibt in Deutschland – eigentlich allerdings in ganz Europa – eine nur recht gering ausgeprägte Kultur von Wagnisfinanzierungen. Zwar gibt es auch hier genug Firmen, die sich mit Venture Capital befassen, jedoch sind diese in der Breite deutlich risikoscheuer als ihre Konkurrenten in den USA – was ebenfalls mit der deutschen Mentalität der Sicherheits- und Perfektionskultur zusammenhängt.
Dementsprechend mangelt es vielen Gründern am nötigen Startkapital. Gerade dort, wo ein Tech-Produkt sich nicht nur auf beispielsweise Programmierarbeit stützt, wird dies rasch zum unüberwindbaren Hindernis.
In diesen Bereich fällt natürlich auch Lobbyismus. Er sorgt vielfach dafür, dass anderslautende Ideen kaum eine Chance haben, zumindest aber von vornherein schlechter gestellt sind. Ein Beispiel von vielen ist der fast ausschließliche Fokus auf Batterietechnik für die Mobilitätswende. Er sorgte dafür, dass bei der Entwicklung der ebenfalls tragfähigen Wasserstofftechnik wertvolle Zeit vergeudet wurde. Erst Mitte 2020 wurde die „Nationale Wasserstoffstrategie“ verabschiedet – wie viele gute deutsche Geschäftsideen bis zu diesem Zeitpunkt niemals den Kopf ihrer Erfinder verlassen haben, kann nur gemutmaßt werden.
Zusammengefasst muss hier festgestellt werden, dass sowohl Deutschland, aber auch Europa sehr gut daran tun würden, diese Mängel mit höchster Priorität abzustellen. Nicht zuletzt deshalb: Schon seit Mitte der 2010er ist die Auswanderungsquote stark angestiegen, lag seit 2016, unterbrochen nur durch das Corona-Jahr 2020, konstant und deutlich über einer Million. Dazu gehören zwar nur etwa ein Viertel deutsche Staatsbürger, allein von dieser knappen Viertelmillion Menschen sind jedoch gut 75 Prozent Akademiker. Rechnet man dazu noch die abwandernden Akademiker ohne deutschen Pass hinzu, ergibt sich ein gefährlicher Brain-Drain von Menschen, die für die Gründerwelt im Tech-Segment absolut elementar wichtig sind. Dieser Verlust an Humanressourcen hat durchaus das Potenzial, künftig dafür zu sorgen, dass die Anwürfe von der Tech-Wüste Deutschland tatsächlichen Wahrheitsgehalt bekommen.